Was lange währt, wird endlich gut – Wie mich Fallout 76 monatelang fesselte

Fallout 76 Banner

Mit den Spielen von Bethesda verbindet mich in gewisser Weise eine Art Hassliebe. Auf der einen Seite bin ich generell ein großer Fan von Open-World-Abenteuern und konnte mich so angefangen mit The Elder Scrolls IV: Oblivion über Fallout 3 bis hin zu Skyrim wunderbar in den Fantasy- und Endzeit-Welten verlieren. Auf der anderen Seite störte mich schon damals, als ich Oblivion für meine PlayStation 3 an Weihnachten geschenkt bekam, die Tatsache, dass die technische Seite des Rollenspiels alles andere als modern erschien. Seltsame Animationen, kaum Weitsicht und vor allem die Ladezeiten beim Betreten von Städten oder gar Häusern störten mich immens. Seit mehr als 15 Jahren warte ich nun darauf, dass Bethesda endlich seiner betagten Engine ein großes Upgrade spendiert und hoffe sehr, dass dies mit dem leider verschobenen Starfield auch geschehen wird. Bis dahin schaue ich sicherlich hin und wieder im Ödland von Appalachia vorbei – der Welt von Fallout 76, die mich überraschenderweise sehr lange in ihren Bann gezogen hat.

Dass meine Wenigkeit recht regelmäßig in Titeln, die von Bethesda entwickelt oder gepublisht wurden, unterwegs ist, verdeutlicht nicht zuletzt ein Blick auf unsere Artikelhistorie.  Angefangen bei The Elder Scrolls Online, welches ich sowohl als Einzelspieler als auch im „Koop“ sehr unterhaltsam fand, über das fantastische Fallout: New Vegas, das meiner Meinung nach auch heute noch ganz weit oben in der Hitliste der Rollenspiele steht, bis hin zum ersten Online-Ausflug der Fallout-Reihe Fallout 76, welches ich im Rahmen eines Steam Free Weekends 2020 das erste Mal anspielen konnte. Einen Bericht dazu findest du im Artikel Fallout 76 Wastelanders: Postapokalyptischer Weltenbummel im Retro-Gewand.

Damals lautete mein Fazit, dass Fallout 76 seine sehr holprigen Anfänge mit dem Ankommen von ersten menschlichen NPCs definitiv hinter sich gelassen hat und durchaus spaßig sein kann. Sonderlich tief konnte ich damals nicht einsteigen, ich hatte ja schließlich nur ein Wochenende Zeit. Wirklich erlebt habe ich Fallout 76  erst im Rahmen des Xbox Game Pass, welcher mir das Spiel auf meine Xbox One X brachte und so das tiefe Eintauchen in ein Endzeit-Abenteuer ermöglichte, das mich gleich auf mehrere Arten wunderbar zu unterhalten wusste.

Appalachia – Ein Abenteuerspielplatz zum Verlieben

Dass West Virginia hübsche Landschaften zu bieten hat, ist allgemein bekannt. Die Tatsache, dass dies allerdings auch nach einem Atomkrieg der Fall sein würde, überrascht dann doch ein wenig. Wer Fallout 3 oder New Vegas kennt, wird sich an weitestgehend leblose Landschaften erinnern, die dem Begriff „Ödland“ sehr gerecht werden. Und irgendwie passt das ja auch ganz gut ins Endzeit-Design der Spiele.

Und trotzdem ist es eine sehr willkommene Abwechslung, in Fallout 76 auf eine deutlich farbenfrohere Welt zu stoßen. Appalachia ist nicht nur riesengroß – auch Abwechslungsreichtum wird in Form von verschiedenen Biomen reichlich geboten. Von dicht bewaldeten Tälern, in die sich ein mäandernder Fluss bettet, über karge Bergbau-Regionen, in deren Gruben noch immer Kohle glüht und die ganze Region in Asche hüllt, bis hin zu diversen Städten und Siedlungen, die allesamt einen eigenen Stil und eigene Geschichten mit sich bringen, ist wirklich alles dabei. Selten hatte man das Gefühl, in einer derart umfangreichen und mit Details und Sehenswürdigkeiten vollgestopften Fallout-Welt unterwegs zu sein.

Typisch für die Reihe startet man in einer der vielen Vaults, in welche sich die Elite der amerikanischen Bevölkerung zum Schutz vor dem atomaren Ende zurückgezogen hat. Auf dem Weg von seinem Quartier nach draußen wird kurz die Steuerung erklärt und man lernt erste Gegebenheiten kennen, danach wird man mit einer vagen Mission losgeschickt und kann fortan mehr oder weniger tun, was man möchte. Schon der erste Blick nach dem Erreichen der Oberfläche lädt dabei förmlich zum Erkunden ein. Das gebotene Panorama zeigt diverse Sehenswürdigkeiten am Horizont und hinter entfernten Hügelketten – einige davon wird man erst nach vielen Stunden erreichen. Mein Entdeckerdrang wurde sofort geweckt und ich stürzte mich sogleich in eine Erkundungstour.

Fallout 76 76

Die Aufträge in Fallout 76, die seit dem Wastelanders Update vor einigen Jahren inzwischen auch von menschlichen NPCs vergeben werden, schaffen dabei einen guten Anreiz, sich neue Ecken der Welt anzuschauen, ohne dabei das Gefühl zu erwecken, man wird dauerhaft quer von A  nach B gehetzt. Diesen Eindruck hatte ich insbesondere von vielen Missionen bei Skyrim. In Fallout 76 waren meines Empfindens nach die Quests der eigentlichen Erkundung untergeordnet und ich begab mich stets zu einem gewissen Grad auch aus Eigeninteresse in neue spannend erscheinende Gebiete.

Nachdem man die ersten Stufen aufgestiegen ist und erste Fraktionen kennengelernt hat, hat man auch ein grobes Bild von Aufbau der Karte. Fallout 76 schafft es hier sehr schön, dass man sich auch als Spieler, der schon viel herumgekommen ist, nicht übermächtig fühlt. Im Vergleich zu anderen Fallout-Ablegern gibt es sehr lange Areale, in die man sich nicht vorwagen sollte und es schwebt stetig die Ehrfurcht mit, dass es noch immer Gegner gibt, die schnell zum Tod führen. So hört man beispielsweise schon zu Beginn des Öfteren mal einen Atomschlag-Alarm und schaut dann hektisch auf die Karte, wo dieser denn in wenigen Minuten eintreffen wird. Denn ohne entsprechenden Strahlenschutz segnet man ansonsten schnell das Zeitliche.

Während man dann auf der Flucht vor dem Atomschlag die Beine in die Hand nimmt, passiert es hin und wieder, dass höherlevelige Spieler mit Powerrüstung in die entgegengesetzte Richtung und damit zum Einschlagsort unterwegs sind – jederzeit ein schönes Bild, das verdeutlicht, dass Fallout 76 in Teilen so etwas bietet wie ein End Game. Erfreulich ist dabei besonders, dass Veteranen Anfängern gegenüber sehr hilfsbereit sind und ab und an Waffen, Crafting-Material oder sauberes Wasser und Nahrung als Geschenk zurücklassen. Ich habe mich gefreut wie ein Schnitzel, als ich als blutiger Anfänger das erste Mal den Weg mit jemandem kreuzte, der mir nützliche Gegenstände übergab. Einige davon hängen noch immer als Erinnerung an meine ersten Schritte in meiner Unterkunft – denn ja, Herumbasteln am eigenen Domizil ist auch Teil von Fallout 76.

Fallout 76 Red Rocket

Die Synergie zwischen Einzel- & Mehrspieler

Trotz der Always-Online-Funktionalität von Fallout 76 und der damit verbundenen Tatsache, dass man stets auf andere Spieler treffen kann, balanciert das Spiel in weiten Teilen zwischen einem Single- und einem Multiplayer-Gefühl. Ohne Probleme lässt sich das Spiel auch als Solo-Abenteuer angehen, viele der Quests lassen sich sehr gut alleine abschließen. Selbst, wenn man nur den Haupthandlungen der inzwischen doch zahlreichen in Appalachia sesshaft gewordenen Fraktionen folgt, ist man so viele Stunden beschäftigt.

Dabei kommt es sicherlich zwar immer mal wieder zu Begegnungen mit anderen Vault-Bewohnern, man kann sich allerdings auch sehr gut als einsamer Wolf durchschlagen, was das Spiel auf Wunsch sogar mit einigen Skills unterstützt. Da inzwischen fast alle Boni für das Töten von Spielern entfernt wurden, lohnt selbiges kaum noch, sodass PvP meiner Erfahrung nach nur stattfindet, wenn alle Parteien auch wirklich zustimmen. Das mag PvP-Enthusiasten zwar stören, dem allgemeinen Spielgefühl ist dies allerdings meiner Auffassung nach ziemlich förderlich. Zusammenarbeit steht bei Fallout 76 definitiv mehr im Fokus, was Begegnungen mit Spielern wie oben beschrieben so motivierend macht. Selten habe ich eine derart freundliche Community erlebt.

Je länger man in Appalachia unterwegs ist, desto mehr wandelt sich das Gameplay von Einzel- zu Mehrspieler. Sobald ein Großteil der Map erkundet war und ich mich mit guter Rüstung und ordentlichen Waffen mit viel Munition ausgestattet hatte, erlangten neben den Fallout-typisch sehr unterhaltsam erzählten Quests auch die Events meine Aufmerksamkeit.  Die Event-Popups, deren empfohlene Stufe zu Beginn gefühlt in unerreichbarer Ferne liegt, werden mit fortschreitendem Spielverlauf stetig interessanter. Schon bald hat man dann auch ein Gefühl dafür, welche Locations und welche Events interessant sind, um den größtmöglichen Nutzen zu erlangen. Praktisch ist, dass man sich völlig kostenfrei zu den Austragungsorten teleportieren kann. Diesen Komfort nutzen selbstverständlich auch die anderen Spieler, sodass bei beliebten Missionen schnell der halbe Server versammelt ist. Genauso schnell, wie alle am Zielort erscheinen, sind sie nach erfolgreichem Abschluss dann auch wieder verschwunden und in alle Himmelsrichtungen verstreut.

Fallout 76 Raider

Zu den klassischen Events in der Open World kommen dann noch Operationen – instanzierte Gebiete mit besonders knackigen Aufgaben, die definitiv erst mit hoher Stufe und gutem Equipment angegangen werden sollten – und die durch spielergesteuerte  Atombombeneinschläge verseuchten Gebiete, in denen besonders starke Gegner mit ebenso besonderen Belohnungen auf die Kampftruppe warten. Hier schlägt sich die Brücke zum Anfang, als man vor den Bomben panisch davonlief. Irgendwann ist man dann selber derjenige, der zum Einschlagsort aufbricht, um die stärksten Mutanten im Spiel zu besiegen.

Die Definition des „End Games“ in Fallout 76 liegt meiner Erfahrung nach völlig im Auge des Betrachters. Einige Spieler werden sich auf das Erreichen möglichst hoher Stufen beschränken, andere sammeln seltene Ausrüstungsgegenstände. Auch das Abschließen möglichst vieler Aufgaben, das ausbauen und verschönern der Basis  oder das Beenden der saisonalen Scoreboards, die etliche Herausforderungen bereithalten, können als unterhaltsame Beschäftigung dienen. Hinzu kommen tägliche und wöchentliche Questbelohnungen, die von  „Pflanze Essbares in deiner Basis an“ bis hin zu „Töte 20 Ghule“ reichen können und zuweilen recht knackig sind, wenn man etwa einen bestimmten relativ selten zu bekommenden Gegenstand häufig konsumieren soll oder starke Elite-Gegner umhauen soll, die man dann erst einmal aufspüren muss. Der Lerneffekt ist auch hier sehr hoch und in gewisser Weise befriedigend, denn irgendwann weiß man, wie man gewisse Challenges am effizientesten bestreiten kann.

Ich habe es mir im späteren Spielverlauf zur Aufgabe gemacht, viele der imposanten und fürs Fallout-Universum sehr markanten Powerrüstungen zu komplettieren und nebenher ein Auge auf die Scoreboard-Herausforderungen zu werfen, um wenigstens eine Season komplett abzuschließen und alle Belohnungen einzukassieren. Und irgendwann war ich dann an dem Punkt, an dem ich derjenige war, der neuen Spielern sauberes Trinkwasser und ein wenig Ausrüstung zurückließ, um ihnen bei ihren ersten Schritten in den Weiten von Appalachia  unter die Arme zu greifen.

Fallout 76 America

Mein Fazit zu Fallout 76 im Jahr 2022:

Als schwarzes Schaf der Reihe kann man Fallout 76 nicht mehr betiteln. Die vielen kostenfreien Content-Updates haben dafür gesorgt, dass sich das Spiel den Stärken der Einzelspieler-Vorlagen annimmt und mit diversen neuen und alten Fraktionen interessanten Geschichten erzählt. Dabei halten sich Ernsthaftigkeit und Humor stets die Waage – die Fallout-Welt ist eben auch in Appalachia mit allerhand skurrilen Begebenheiten gefüllt.

Es ist wichtig zu verstehen, dass Fallout 76 trotz seiner Mehrspieler-Features kein MMO darstellen möchte. Vielmehr ist es eine Sandbox, deren Erzählungen sich wahlweise gemeinsam oder allein erleben lassen. Erst die Inhalte des End Games legen den Fokus verstärkt auf Multiplayer-Erfahrungen, etwa wenn man mit einer Vielzahl von Mitstreitern starke Bosse umhaut. Auch klassische und saisonale Events versprühen Multiplayer-Charakter, wenn man beispielsweise beim Fastnacht-Event gemeinsam die Vorbereitungen für einen Festumzug durchs schweizerdeutsche Dorf Helvetia (Ja, das gibt’s in West Virginia wirklich!) trifft und diesen dann gegen Eindringlinge verteidigen muss.

Insgesamt bietet Fallout 76 für Freunde der Reihe inzwischen sehr viele Gründe, einen Abstecher nach Appalachia zu wagen. Die Welt ist wundervoll gestaltet und fungiert definitiv als zentraler Ankerpunkt und Highlight des Spiels. In der weitläufigen Umgebung lassen sich viele spannende Aufgaben erleben und der typische Fallout-Flair kommt spätestens auf, wenn man die eingängigen Radiosender mit Musik aus der Mitte des 20. Jahrhunderts anwirft. Natürlich ist Fallout 76 nicht gänzlich fehlerfrei – die betagte Engine zeigt die selben Probleme, die schon seit Oblivion im Raum stehen. Allerdings können wackelige Animationen, kleinere Bugs und Glitches und ein nicht ganz zeitgemäßes Technikgerüst das Gesamtbild sowohl für Fans als auch für Neueinsteiger nicht trüben – Fallout 76 ist unterhaltsam, motivierend und stilsicher und hat sich dank zahlreicher Inhaltsupdates als empfehlenswerter Fallout-Teil etabliert!