Die Macht der verzögerten Freiheit – Wodurch Fallout: New Vegas den Einstieg meistert

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Mit Fallout 3 hauchte Bethesda der fast schon altertümlichen Reihe rund um die nukleare Endzeit und die Auswirkungen eines Atomkriegs neues Leben ein. Was in den ersten beiden Ablegern als isometrisches Taktik-Rollenspiel mit rundenbasierten Kämpfen begann, wurde in Teil 3 im überaus erfolgreichen Stil von The Elder Scrolls IV: Oblivion neu erfunden. Auch Fallout 3 konnte damals im Jahr 2008 diverse Preise abräumen und zählt noch immer zu den besten Erzeugnissen der Bethesda-Spieleschmiede. Und dennoch gilt heute eher Fallout: New Vegas – das Fallout 3,5 – von Obsidian Entertainment eher als Anwärter auf den Rollenspiel-Thron. Woran liegt das? Was hebt New Vegas von anderen RPGs ab und weshalb ist es auch im Jahr 2021 immer noch ein sehr spielenswertes Abenteuer? Der Kern des Erfolgs liegt in der Gestaltung der Story und deren Einbindung in die Spielwelt.

Meine persönliche Fallout-Geschichte begann vor weit über zehn Jahren mit dem besagten dritten Teil. Nachdem ich etliche Stunden in die PS3-Version von Oblivion gesteckt hatte, konnte mich auch das Endzeit-Szenario begeistern. Im Prinzip stülpte Bethesda Oblivion hier ja lediglich einen neuen Skin über und verschob das Genre von Mittelalter-Fantasy zu Atomkrieg-Sci-Fi. Wirklich große Unterschiede findet man allerdings nicht, das Grundgerüst des Spiels ist definitiv sehr ähnlich. Ist das etwas schlechtes? Mitnichten, denn Oblivion war nun mal ein richtig tolles Spiel und Fallout 3 stand diesem in nichts nach. Im Gegenteil, meiner Meinung nach wurde in der Endzeit eine deutlich bedrückendere Stimmung kreiert. Dass das Übertragen von Gamedesign von einer bereits etablierten Reihe auf eine andere sehr gut funktioniert, bewies selbstredend auch Rockstar Games mit Red Dead Redemption, welches im Grunde Grand Theft Auto im Wilden Westen ist. Aber das nur am Rande. Zurück zu Fallout und dem Teil, der mich vor einigen Monaten überaus positiv überraschte, obwohl ich ihn kurz nach der Veröffentlichung schnell beiseitelegte. Fallout: New Vegas zeigt trotz diverser Alterserscheinungen, worauf es bei guter Spielgestaltung ankommt.

Zu Beginn von Fallout: New Vegas wird man erschossen. Jawohl, richtig gelesen. In in einer Zwischensequenz aus der Egoperspektive findet man sich gefesselt wieder, während zwielichtige Gestalten bereits ein Grab im trockenen Boden ausheben. Man erfährt, dass man als Kurier ein wichtiges Paket dabei hatte und es nach New Vegas, welches bereits im Dunkel der Nacht seine Neonfarben in der Ferne erstrahlen lässt, bringen sollte. Gleichzeitig gibt das Einleitungsvideo einen groben Überblick über die Gegebenheiten der Welt – die Fraktionen, das Umland, die Stadt New Vegas. Der gepflegte Mann im Anzug, der die Waffe auf einen richtet und den Abzug drückt, wird ein wichtiger Ankerpunkt in den ersten Spielstunden. Denn natürlich sind wir nicht tot, werden von einem seltsamen Roboter ausgebuddelt und vom Doktor des nahegelegenen Örtchens Goodsprings aufgepäppelt. In dessen Haus stellt man sich im Editor seinen Charakter zusammen, lernt die Steuerung kennen und ist nach wenigen Minuten wieder auf den Beinen. Im Gegensatz zu Fallout 3, in welchem das Intro in der Vault eine gefühlte Ewigkeit dauert, steht einem hier im Handumdrehen die Welt offen – wenn man das denn möchte. Meiner Meinung nach funktioniert Fallout: New Vegas nämlich am besten, wenn man das Spiel rollenspielerisch angeht und zu Beginn die Logik der Freiheit vorzieht.

Natürlich kann man direkt nach dem Verlassen des Hauses des Arztes schnurstracks nach New Vegas aufbrechen und alles andere Links liegen lassen. Genau dies tat ich auch vor etlichen Jahren in meinen ersten Schritten im Spiel auf der PlayStation 3. Ich wollte einfach wissen, wie es in der Stadt aussieht und was dort auf mich wartet. Und sicherlich hätte ich auch einen Weg hinein gefunden. Doch die Vielzahl der Wachen vor dem Tor und deren Drohungen, dass man ohne einen Pass oder das Zahlen einer utopischen Gebühr die Stadt nicht betreten dürfe, ließen mich etwas ratlos zurück. Man hätte sicherlich einen Weg in die Stadt finden können und sein ganz persönliches Abenteuer gänzlich anders erleben können, doch aus irgendeinem Grund motivierte mich das Spiel damals nicht sonderlich und ich legte es nach wenigen Stunden beiseite. Es fehlten einfach die Verbindungen zum Spiel und ich fühlte mich ähnlich verwirrt und orientierungslos wie der Charakter, den ich verkörperte. Ganz nebenbei war auch die Performance der PS3-Version alles andere als befriedigend und die Technik war schon damals nicht wirklich aktuell und ansehnlich, sodass ich damals beschloss, Fallout auf unbestimmte Zeit den Rücken zu kehren. Hätte ich mich damals vom Spiel führen lassen, wäre meine erste Erfahrung vermutlich deutlich anders verlaufen.

Geht man Fallout: New Vegas aus der Sicht des Charakters an, entwickelt sich im Laufe der Handlung eine unglaublich starke Verbindung zur Welt. Mit der ursprünglichen Mission im Hinterkopf – der Zustellung eines augenscheinlich wichtigen Paketes – und einer aufgetakelten Person, die vor Mord nicht zurückschreckte, gilt es herauszufinden, was geschehen ist und wohin der Mörder mit der wertvollen Beute verschwunden ist. In Goodsprings ließen sich sicher einige Hinweise aufgabeln. Selbstverständlich erwarten die Bewohner für Informationen erst einmal Gefälligkeiten – wir haben es hier immerhin mit einem Rollenspiel voller Quests zu tun. Die größte Sorge im Dorf ist ein Angriff der Pulverbanditen – einer Verbrechertruppe, die sich ganz in der Nähe eingenistet hat und mit Dynamit die ehemals sicheren Routen in Angst und Schrecken versetzen. Direkt zu Beginn bietet Fallout: New Vegas an dieser Stelle einen Vorgeschmack darauf, was den Spieler im späteren Verlauf noch erwartet: Entscheidungsfreiheit. Tatsächlich kann man sich nämlich auf die Seite der Banditen schlagen und der persönlichen Geschichte so einen ganz anderen Touch verleihen. Ich entschied mich an dieser Stelle dafür, den Leuten zu helfen, denen der gutmütige Doktor angehört und wurde dafür mit einem Tipp belohnt, wohin sich mein Mörder verzogen hat – gen Süden, weg von New Vegas. Und so beginnt eine Schnitzeljagd, die das Ödland und die Motivationen seiner zerstrittenen Fraktionen allmählich verständlich werden lässt ohne dabei zu überfordern.

Fallout New Vegas Goodsprings

Auf den Wegen durch das Ödland auf der Suche nach Antworten komme ich so an immer neuen Orten vorbei und lerne mehr und mehr Bewohner der verstrahlten Welt kennen, die mir abhängig von vorherigen Entscheidungen mal freundlich und mal feindselig gesonnen sind. So lernt man rasch, dass sich im Umland von New Vegas zwei Fraktionen um die Vorherrschaft über Ressourcen und strategisch wichtige Positionen einen erbitterten Kampf liefern. Die Republik Neukalifornien (kurz RNK), eine weitestgehend demokratische Gemeinschaft,  und die Caesar’s Legion, eine diktatorische und stark ans Römische Reich angelehnte Gruppe.  Ich erfahre außerdem, dass die  Energieversorgung über den nahegelegenen Hoover-Staudamm bald von der Legion attackiert werden soll. Obwohl augenscheinlich die RNK die friedlichere Truppe zu sein scheint, gibt es auch gute Gründe, sich der eisernen Legion anzuschließen. Wie entscheidet man sich schlussendlich? Bis dahin ist es noch ein langer Marsch und Fallout-typisch gibt es an allen Ecken und Enden etwas zu entdecken und nützliche Objekte zu sammeln. Nahezu jedes Gebäude ist betretbar und eifrige Erkunder können in jedem noch so versteckten Schubfach wichtige Materialien und Ausrüstung finden. Dabei verliert man das große Ziel der Aufklärung des eigenen Schicksals nie aus den Augen und windet zuweilen seine Gesinnung in die Richtung, von der man hofft, dass sie einem selber den größten Nutzen bringt. Wer Fallout: New Vegas wirklich als Rollenspiel spielt und nicht nur ziellos von Ort zu Ort huscht, erzeugt eine stetig spannende Atmosphäre.

Die ins Spiel fest verwobene Haupthandlung und die stetige Konfrontation mit dem einen wichtigen Ziel funktioniert in Fallout: New Vegas besser, als ich es in den meisten von mir gespielten Rollenspielen erlebt habe. Dies liegt insbesondere auch daran, dass die namensgebende Metropole auch immer in den Gedanken des Spielers verweilt und man stets darauf brennt, die leuchtende Großstadt wieder am Horizont zu erspähen und endlich hinter die gut gesicherten provisorischen Mauern blicken zu können. Der Schritt ins ungewisse macht einen großen Reiz des Spiels aus. Mit klarem Ziel vor Augen bahnt man sich so mehrere Stunden lang gut geführt seinen Weg, bis das Spiel an einen entscheidenden Wendepunkt angelangt, der die Erzählweise grundlegend verändert. Plötzlich ist nämlich das eine Ziel abgeschlossen und man wird regelrecht überhäuft mit den eingangs angesprochenen Entscheidungen. Dies geschieht zu einem meiner Meinung nach perfekten Punkt im Spiel, denn durch die gemächliche und doch nie einengende Führung in der ersten Hälfte des Abenteuers hat man nun ein sehr klares Bild der Konstellationen im Ödland vor Augen und kann aus verschiedensten Blickwinkeln abwägen, welche Schritte als nächstes am logischsten für den eigenen Rollenspiel-Ansatz wirken. An einem Moment, an dem ich nicht sicher war, ob das Spiel nun bald vorbei ist, geht es eigentlich erst richtig los.

Aus Rollenspiel-Sicht ist Fallout: New Vegas deutlich immersiver als The Elder Scrolls V: Skyrim.

Neben den großen Parteien RNK und Caesar’s Legion gibt es diverse in der trostlosen Umgebung verstreuten Splitterparteien, die allesamt einzigartige Geschichten zu bieten haben und sich je nach Ausrichtung des Spielers auch in den großen Konflikt einmischen. Da man an dieser Stelle bereits viele Stunden mit den unterschiedlichsten Aufträgen zu tun hatte und diverse Begleiter an seine Seite gezogen hat, lassen sich nun fundiertere Gedanken fassen und Entscheidungen haben eine tiefgreifende Begründung. Anders als im RPG-Bruder The Elder Scrolls V: Skyrim etwa, welches einen mehr oder minder im Rahmen der Haupthandlung wahllos über die Karte schickt, ist man hier deutlich besser auf eben diese wichtigen Momente, in denen eine Wahl getroffen werden muss, vorbereitet. Hier kommt der größte Unterschied der beiden Spiele zum Vorschein, durch welchen Fallout: New Vegas meiner Meinung nach zum deutlich besseren Spiel wird.

Wo Skyrim eher das freie Erkunden fördert und dabei den Spieler sehr oft vergessen lässt, was eigentlich das Hauptaugenmerk sein sollte, ist dieses in New Vegas stets klar im Fokus. Dies verleiht der Welt nicht nur mehr Glaubwürdigkeit, es sorgt auch dafür, dass der eigene Spielstil von Entscheidungen geprägt wird, die man mit dem Charakter zuvor getroffen hat. Alles fühlt sich in seiner Form wichtiger an und viele Teile der Welt gewinnen stark an Einprägsamkeit, wohingegen es in Skyrim lediglich gefühlt tausende mehr oder weniger belanglose Dungeons zu durchstreifen gibt. Das Erschaffen einer starken Bindung zur Welt und dem eigenen Avatar gelingt Fallout: New Vegas nur, weil es sich auf geschickte Art und Weise Zeit lässt, den Spieler langsam in das Ödland zu begleiten. Umso mehr lässt sich dann die eigentliche Freiheit des Spiels genießen.

Fallout New Vegas

Mein Fazit zu Fallout: New Vegas:

Die Definierung von eindeutigen Zielen in der ersten Hälfte der Haupthandlung, die den Spieler in einer klaren Linie durch das Ödland leiten, sorgt für eine ausreichend tiefe Lernphase und ermöglicht so das komplette Eintauchen in eine logische und von klaren Regeln durchzogene Spielwelt. Fallout: New Vegas gibt sich große Mühe bei der Schaffung realistischer Diskrepanzen zwischen den verschiedenen Fraktionen und führt dabei ohne zu überfordern an das komplexe Netz heran, in welchem Rollenspiel-Fans einer Vielzahl von Entscheidungen gegenübertreten werden.

Zwar ist das inzwischen zehn Jahre alte Spiel beileibe keine Augenweide mehr und auch diverse Design-Entscheidungen wirken im Jahr 2021 ein wenig unzeitgemäß, nichtsdestotrotz zählt Fallout: New Vegas auch heute noch völlig zurecht zu den besten Rollenspielen aller Zeiten. Die Bewohner der Welt haben allesamt logische Charakterzüge und konfrontieren den Spieler mit sinnigen Aufgaben, das große Ziel verliert man beim Questen dennoch nie aus den Augen und arbeitet so in vielen Stunden Spielzeit auf ein furioses Finale hin. Wer die technischen Schwächen und die dem Alter geschuldeten Macken ertragen kann und sich beispielsweise mit dem ziemlich langsamen Bewegungstempo und der bestenfalls zweckmäßigen KI der Gegner anfreunden kann, bekommt mit Fallout: New Vegas auch 2021 noch ein wundervoll durchdachtes Abenteuer für Rollenspiel-Enthusiasten. Mir wird die Geschichte rund um RNK, Caesar’s Legion und die spielergesteuerte Schlüsselfigur, die als Kurier zu Beginn nur ein Paket zustellen sollte, jedenfalls noch sehr lange in Erinnerung bleiben.

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