„No Gods or Kings, only Man.“ – Mit diesen Worten auf einem schweren roten Banner entführte uns BioShock seinerzeit in die Stadt Rapture. Das Mantra definierte gleich zu Beginn den erzählerischen Rahmen des Spiels, in dessen Unterwasserwelt eine kapitalistische Utopie nach ihrem Zusammenbruch gezeigt wurde. BioShock zählt aufgrund seines Wordbuildings noch immer zu meinen Lieblingsspielen, der Leitspruch von Rapture zierte lange meine alte Behausung. Schon als Atomic Heart zum ersten Mal gezeigt wurde, weckte es ähnliche Gefühle, wie es einst BioShock tat. Ich war sehr gespannt, ob es eine ähnlich gelungene Atmosphäre kreieren könnte. Und abermals zieren rote Banner den Anfang des Spiels – diesmal allerdings versehen mit Hammer und Sichel.
Ähnlich, wie ich stetig auf der Suche nach Spielen bin, die sich an The Witness oder Return of the Obra Dinn orientieren, halte ich auch die Augen nach Titeln offen, die sich BioShock zum Vorbild machen. Das einzige Spiel der letzten Jahre, welches diese Lust zu stillen vermochte, war Prey. Nicht nur, dass die Raumstation sehr detailliert und facettenreich gestaltet wurde – die spielerischen Möglichkeiten waren zudem deutlich vielfältiger als das zugegebenermaßen relativ standardmäßige Shooter-Gameplay in Rapture. Beide Titel zählen noch immer zu meinen Lieblingen.
Dementsprechend froh war ich, als die ersten Bewegtbilder von Atomic Heart auftauchten. Nicht nur, dass es sich mit der sowjetischen Utopie einen interessanten Kontrast zum Kapitalismus-Wunderland aussuchte – es sah dabei auch noch gigantisch schön aus! Wieder einmal ist es der Game Pass, der einen das Spiel ohne Mehrkosten näher bringt. Und erneut bin ich gefesselt vom Wordbuilding und der Art und Weise, wie die spielinterne Logik durch die Spielwelt vermittelt wird und andersherum.
1. Eine Parade fürs Volk & der sowjetische Traum
Die bereits erwähnten roten Banner mit Hammer und Sichel finden sich zu Beginn von Atomic Heart nicht nur in einfacher Ausführung wieder – ganze Straßenzüge sind mit ihnen gesäumt! Der pompöse Propaganda-Apparat des Kommunismus trug nicht nur in unserer Realität zuweilen etwas zu hoch auf, er spiegelt sich auch wunderbar im Spiel wider. Die Einleitung wirft uns direkt in eine Art Walking-Simulator-Modus, in dem wir uns zwar im Rahmen der Levelgrenzen frei bewegen können, aber ansonsten weder Waffen noch sonstige Gadgets verwenden dürfen. Vergleiche mit BioShock, Prey oder gar Half-Life kommen mir direkt in den Sinn.
Der langsame Einstieg ist durch die fehlende Ballerei allerdings keineswegs langweilig. Vielmehr ist die Umgebung auf audiovisueller Ebene so wundervoll umgesetzt, dass man gar nicht recht weiß, wohin man zuerst hören und schauen soll. Die Linearität des Starts wird geschickt kaschiert durch einfallsreiche Grenzen am Rand des Levels. Und sowieso passiert an jeder Ecke und aller paar Meter irgendetwas Interessantes, das man sich nicht entgehen lassen möchte. Sofort war ich von dem eigentümlichen Retro-Modernismus-Flair gepackt, sofort beeindruckten mich die Roboter und deren außergewöhnliches Design. Denn in Atomic Heart haben es pfiffige Köpfe geschafft, einen Großteil der Arbeit und der körperlichen und monotonen Tätigkeit auf fähige Maschinen abzuwälzen. Gleich nebenbei wurden, wie man schnell erfährt, auch Implantate an den Mann oder die Frau gebracht, um Leistung zu steigern und die Effizienz zu maximieren. Der neue sowjetische Mensch ist scheinbar Wirklichkeit geworden.
Doch wie es mit Utopien und vielversprechenden Träumen, die zu gut sind, um wahr zu sein, oftmals ist, so sind sie schlussendlich wirklich zu gut, um wahr zu sein. Nachdem wir die tolle Stimmung in der Stadt aufgesogen haben und uns einen Weg über eine Straße, auf der eine gigantische Parade stattfindet, gebahnt haben, werden wir von einer ranghohen Person beauftragt, in einem gewissen Wissenschaftssektor nach dem Rechten zu sehen. Und so endet mit dem Intro bereits das erste erzählerische Element von Atomic Heart: Der bilderbuchartige Hörspielmoment, in welchem man in Sachen Gameplay nicht allzu viel zu tun hat uns sich stattdessen von Lore-Hintergründen sowohl grafisch als auch via Erzählung und Dialog berieseln lässt. Von dieser Art des begehbaren Museums gibt es im Verlauf des Spiels einige.
2. Ein Albtraum & der bewaffnete Widerstand
Mit der harmonischen Idylle ist es selbstverständlich schnell vorbei, denn wie es sich für einen Shooter gehört, werden Probleme zumeist mit purer Waffengewalt gelöst. Und ähnlich wie Rapture steht auch die Welt von Atomic Heart am Abgrund. Nachdem wir in den großen Wissenschaftskomplex geflogen sind, wird das Ausmaß des Übels schnell sichtbar: Die Roboter, die geschaffen wurden, um ihren Herren zu dienen, halten sich allem Anschein nach nicht mehr an den ihnen eingebauten Verhaltenskodex und greifen stattdessen als feindselige Entitäten mal mehr und mal weniger rücksichtslos an. Die gleichen humanoiden Helfer, die zuvor noch für das Sauberhalten der Wege verantwortlich waren, stellen nun durch ihre schiere Kraft einen ernstzunehmenden Gegner im Nahkampf dar. Und dass man spezialisierten Robotern, die zum Fällen von Bäumen oder zum Abernten von Feldern konstruiert wurden, plötzlich auch nicht mehr begegnen möchte, erklärt sich wohl von selbst.
Da Waffen nicht einfach so in der Landschaft herumliegen, müssen wir uns zu Beginn von Atomic Heart mit der direkten Konfrontation zufriedengeben. Hier erinnert das Spiel abermals an BioShock, welches zu Beginn durch den Verzicht auf ein großes Waffenarsenal und die damit einhergehende Sicherheit ebenfalls eine sehr angespannte Atmosphäre schaffte. Erst nach und nach lassen sich Baupläne für neue Waffen finden, die dann an großzügig verteilten Stationen zusammengebastelt werden können. An eben diesen Stationen stellt man auch wertvolle Munition her, die ansonsten nur sehr sporadisch auffindbar ist. Besonders in den ersten Spielstunden ist so jeder Schuss wohlüberlegt und jede Investition einer Ressource wird mehrfach überdacht. Der Aufbau eines Kampfarsenals ist nicht leicht und gerade deshalb von äußerster Priorität. Auch die Verbesserungen der Waffen sollte nicht vernachlässigt werden, da sich Schadenswerte, Präzision und viele andere Parameter stark erhöhen lassen, was insbesondere in den knackigen Bosskämpfen ins Gewicht fällt.
Hat man dann erst einmal ein schlagkräftiges Repertoire aufgebaut und sich auch mit den vielseitigen Fähigkeiten seines Handschuhs – ich erinnere an dieser Stelle noch einmal an den Augmented Human, der in der Sowjetunion von Atomic Heart bereits Wirklichkeit geworden ist – vertraut gemacht, entfalten die Kämpfe ihr komplexes Potential. Die Ballereien in Atomic Heart spielen sich durch die hohe Bewegungsgeschwindigkeit und den Dash ordentlich flott, bleiben dabei aber angenehm taktisch und vielseitig. Die diversen Gegnertypen erfordern verschiedene Herangehensweisen und die richtige Antwort auf ihre Resistenzen kann im Zweifel viel Munition sparen. Mit Shotgun im Anschlag und ausgerüsteter Levitation Gegner zuerst in die Luft zu heben, sie dort hilflos zu durchlöchern und dann mit einem beherzten Knall auf den Boden der Tatsachen zurückzuholen, wird einfach nicht langweilig! Und auch hier glänzt Atomic Heart auf visueller Ebene – sowohl die Gegnermodelle als auch die Waffen und deren explosive Wirkung sehen wunderbar aus. Zugleich wird die Welt mithilfe der Kämpfe zusätzlich indirekt beschrieben, denn alle Widersacher haben eine ursprüngliche Aufgabe gehabt, die immer noch sichtbar ist, aber nun zur Waffe umfunktioniert wurde. Der Erschaffene lehnt sich gegen den Erschaffer auf.
3. Rätsel-Räume & die Frage einer offenen Welt
Sowohl das erzählerische Element der ruhigen Momente als auch die namensgebenden Schießereien der klassischen Shooter, die in den vorangegangen Kapiteln besprochen wurden, kommen so auch in BioShock vor. Das nächste Element von Atomic Heart allerdings ist im Vergleich ein Alleinstellungsmerkmal – die Rätsel, die ich so in dem Spiel gar nicht erwartet hätte. So, wie es oft eine klare Trennung zwischen Erzählung und Ballerei gibt, so gibt es diese Trennung auch zu den Rätseln. Denn diese spielen sich hauptsächlich in eigenen Gebäudekomplexen ab, vornehmlich in solchen, in denen nach neuen Waffentechniken geforscht wurde. Dass es dort gute Beute zu holen gibt, ist klar. Die Manipulation der Schwerkraft zum Erreichen des Ziels ist dabei nur ein Aspekt, welches es zu meistern gilt. Atomic Heart wird durch die Knobel-Kammern beileibe nicht zu einem Knobelspiel, es erinnert in einigen Momenten insbesondere auch durch die visuelle Präsentation der Räumlichkeiten an Portal und andere Rätsel-Titel aus der Egoperspektive.
Auch in den linear strukturierten Gebieten der Hauptaufgaben stößt man hin und wieder auf kleinere Rätsel-Einlagen, die sich dann mitunter auch mit Ballereien vermischen und so die ansonsten recht starre Grenze der Gameplay-Elemente verschwimmen lassen. An dieser Stelle sei gelobt, dass sich die Rätsel in ihrem Abwechslungs- und Ideenreichtum ähnlich vorbildlich zeigen, wie es der Rest des Spiels schafft. Kleinere Denkaufgaben gibt es zudem auch in der offenen Welt – denn anders als die beiden Spiele, die in diesem Beitrag als Vergleich dienen, ist man in Atomic Heart in einer offenen Landschaft unterwegs, in welche sich die erwähnten linearen und abgeschlossenen Bereiche einfügen. Um in manche einzudringen, müssen Türen über Kameras geöffnet oder andere Tricks genutzt werden. Denn in einen Forschungstrakt der Sowjets latscht man schließlich nicht einfach so hinein. Besonders dann nicht, wenn auch noch wild gewordene Maschinen unterwegs sind.
Rätsel kommen in BioShock zwar nicht vor, in Prey dafür aber sehr wohl. Zwar nicht auf direkter Ebene als klar definierte Aufgabe, sehr wohl aber im Rahmen der Erkundung und der kreativen Wegfindung. Eine klare Abtrennung zu anderen Elementen des Spiels, wie es in Atomic Heart der Fall ist, gibt es dort also nicht. Und das ist wohl auch der größte Unterschied der beiden Spiele, die man ansonsten recht gut miteinander vergleichen kann. In Prey werden Exposition, Gunplay und Rätsel fließend miteinander vermischt und bilden ein klares Gesamtkonstrukt ab. Atomic Heart hingegen trennt diese Elemente sichtlich, insbesondere im Bezug auf klare räumliche Trennungen. Schlussendlich muss jeder für sich entscheiden, welche Designphilosophie ihm mehr liegt. Beides hat Vor- und Nachteile, beides ist auf seine ganz eigene Art unterhaltsam. Der Hinweis, dass für Freunde von BioShock und Prey ein Blick auf Atomic Heart definitiv lohnenswert ist, erübrigt sich an zum Ende dieser Analyse nun schon fast.
Mein Fazit zu Atomic Heart:
Die Hoffnungen, die ich in Atomic Heart setzte, waren nicht umsonst: Endlich gibt es wieder einen Shooter, der mit kreativem und in sich geschlossenen Weltdesign punkten kann und sich damit in die Reihen von BioShock und Prey einreiht! Die sowjetische Utopie wurde wundervoll umgesetzt und strotzt nur so vor Liebe zum Detail. Alleine schon das Erkunden der Welt lohnt sich damit auf ganzer Linie.
Mithilfe der unterschiedlichen anpassbaren Waffen und abwechslungsreichen Fähigkeiten des Handschuhs kommt auch die Action nicht zu kurz und Ballerfreunde kommen in den taktischen Kämpfen auf ihre Kosten. Gleichzeitig kommt die Lore der eigensinnigen Welt nicht zu kurz, denn jedes Element wird umfassend erklärt, wenn man richtig aufpasst und an den richtigen Schauplätzen zuhört. Denn ein Techniklabor ist nicht einfach nur ein Schauplatz für eine Mission – es dient auch der Erläuterung vieler Gegebenheiten. Gleiches gilt für viele andere Orte der überraschend großen Welt.
Bei all dem Lob fallen auf der anderen Seite nur sehr wenige Makel negativ auf. Zum einen ist die Erzählweise der Handlung hin und wieder recht verwirrend – in meinem Fall aus dem einfachen Grund, dass ich mir die Namen der Figuren beileibe nicht merken konnte. Zum anderen sorgen Dash und Sprung für meinen Geschmack zu oft dafür, dass man plötzlich in einer Position festhängt oder von Gegnern in eine Ecke gedrängt wird, aus der man sich nicht mehr herausmanövrieren kann. Klar, letzteres lässt sich mit besserem Movement sicherlich vermeiden. Erwähnt sei es trotzdem, ohne an dieser Stelle meine Unfähigkeit als Kritik am Spiel abwälzen zu wollen.
Ganz nebenbei bemerkt bedient sich Atomic Heart mit seinem sprechenden Handschuh einer ähnlichen Methodik, wie ich sie in meinem Beitrag zu High on Life gelobt habe – es kombiniert physisches Spielelement und dialogbasierte Exposition. Schlussendlich ist Atomic Heart ein wahrer Überraschungshit des Jahres und ich denke, dass ich Ende des Jahres noch einmal auf das Spiel zurückkommen werde, wenn ich von den besten Spielen 2023 berichte. Ein Spiel, welches die Zeichentrickserie Hase und Wolf aufgreift, verdient eine solche Erwähnung aber auch. Kenner werden wissen, wovon ich rede.
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