Pentiment: Persönliche Geschichtsschreibung im mittelalterlichen Bayern

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Beim Überfliegen unseres Blogs als Vorbereitung auf das Schreiben dieses Beitrags ist mir aufgefallen, dass ich dieses Jahr nur ein einziges Spiel behandelt habe, welches auch wirklich im Jahr 2022 erschienen ist. Irre! Vielleicht liegt das an einem unterbewussten Zurücksehnen an alte Gaming-Tage, vielleicht liegt es aber auch daran, dass dieses Jahr einfach keine für mich sonderlich interessanten Titel erschienen sind. Ein Blick auf die Best-of-Liste von OpenCritic bestätigt letzteres. Gott sei Dank erschien mit Pentiment nun aber doch ein Spiel, welches schon bei seiner ersten Ankündigung mein Interesse weckte. Nicht nur, dass der Artstyle sehr interessant war – das Spiel stammt auch noch von einem Studio, dessen erzählerische Qualitäten ich sehr schätze!

Verantwortlich für das in einem überschaubaren Dörfchen am Rande der bayrischen Alpen angesiedelten Spieles ist Obsidian Entertainment, das Studio, das unter anderem für den meiner Meinung nach besten Fallout-Ableger verantwortlich ist. Fallout: New Vegas bestach seinerzeit durch wunderbares Writing, welches den Spieler nach und nach in die postapokalyptische Welt der Mohave-Wüste entführte, und ist auch heute noch ein sehr spielenswertes Rollenspiel. In unserem Beitrag Die Macht der verzögerten Freiheit – Wodurch Fallout: New Vegas den Einstieg meistert erfährst du mehr darüber, warum gerade diesen Fallout-Teil so herausragend ist. Auch das grandiose The Outer Wilds, das besonders durch seine Begleiter überzeugen konnte, behandelten wir bereits im Meinungsartikel Die Begleiter in The Outer Worlds & deren belebender Einfluss auf das Abenteuer.

Man kann also durchaus sagen, dass Obsidian Entertaiment einige Asse im Ärmel hat, was glaubwürdige Weltgestaltung betrifft. Darüber hinaus traf auch das Setting von Pentiment meinen Geschmack und ich war sehr gespannt, ob das Obsidian mich abermals überzeugen kann. Schlussendlich war es insbesondere ein Designaspekt, der Pentiment zu einem meiner Game-of-the-Year-Anwärter macht.

Pentiment entführt den Spieler ins 16. Jahrhundert in eine kleine Siedlung, die an einem malerischen Wald gelegen ist und an die neben der kleinen Kirche am Ortsrand auch eine große Abtei auf dem Hügel in der Nähe angrenzt. In eben dieser Abtei arbeitet unser Hauptcharakter, Andreas Maler, im Skriptorium und hilft den christlichen Gelehrten bei der Vervielfältigung diverser Bücher. Nebenher arbeitet Andreas auch an seinem eigenen Projekt, in das er als Zeichner und Künstler sein Herzblut steckt. Und obwohl das beschauliche Örtchen in Harmonie zu stehen scheint, brodelt es nicht nur an einer Stelle. Pentiment wirft uns in eine spannende Zeit, in der der Glaube hinterfragt wird und in der neue Technologien alte Berufszweige abzulösen drohen. Der wankende Glaube der Stadtbewohner wird durch die Geschichte des Ortes zusätzlich auf die Probe gestellt – denn historisch gesehen waren die Katholiken nicht die ersten, die in der Region siedelten.

Wir versuchen als Andreas Maler also, unseren Tag so gut wie möglich zu gestalten und dabei unsere Aufgaben nicht aus den Augen zu verlieren. Pentiment simuliert dabei den groben Tagesablauf mit klar definierten Zeiten zum Arbeiten, Essen und Ruhen. Dies führt dazu, dass man sich zuweilen entscheiden muss, was man unbedingt an einem Tag erledigen will – und was im Zweifel auf der Strecke bleibt. Das alles funktioniert für Andreas auch recht ordentlich, bis zu einem ereignisreichen Morgen, an dem ein reicher Adelsmann im Städtchen einreitet und bald darauf ein mysteriöser Mordfall die Gemeinde erschüttert.  Fortan ist man als Spieler darauf bedacht, Hinweise auf den Täter zu finden und die Wahrheit ans Licht zu führen. Und natürlich drängt die Zeit, denn der fälschlicherweise verdächtigte Glaubensbruder aus dem Skriptorium steht kurz vor seiner Anklage! Und obwohl Pentiment beileibe kein Actionspiel ist, entsteht ein spürbarer Zeitdruck durch die Kombination des Tagesablauf-Designs und des sich anbahnenden Richterspruchs.

Spielerisch steht bei der Suche nach der Wahrheit vor allem eines im Mittelpunkt: Lesen, Lesen und noch mehr Lesen. Die unvertonten Dialoge in Pentiment sind dabei wunderbar geschrieben und gehören mit zu den besten, die es meines erachtens jemals in einem Videospiel gab. So artikulieren sich beispielsweise einfache Bauern ganz anders als der Arzt oder gar die Glaubensschwestern in ihrem Kräutergarten. Und obwohl Pentiment wie erwähnt nicht vertont ist, gelingt es dem Spiel, den Charakteren eine Stimme zu verleihen. Dies geschieht insbesondere durch die geniale Art und Weise, wie die Schrift als Stilelement verwendet wird. Jeder Stand verfügt über ein eigenes Schriftbild und anstatt den Text nur öde angezeigt zu bekommen, werden die Zeilen mit verschiedenen Techniken aufs Papier gebracht. Ein Bauer, der mit einfacher Feder spricht, setzt dabei auch hin und wieder ab, wenn die Schrift zu verblassen droht, und taucht die imaginären Feder in die Tinte. Auch ab und an auftauchende Schreibfehler werden manuell im Nachhinein verbessert, was die Authentizität des Geschriebenen nochmals deutlich erhöht. Das alles wird garniert mit einer unfassbar befriedigenden Geräuschkulisse – Freunde von ASMR kommen hier sicherlich voll auf ihre Kosten!

Pentiment Skriptorium

Der Fokus von Pentiment liegt ganz klar auf dem Erleben der Gespräche zwischen der Vielzahl an unterschiedlichen Figuren. Dabei hat man ab und an die Möglichkeit, durch Auswahl von bestimmten Dialogoptionen die Charakterzüge von Herrn Maler zu definieren. So können wir zum Beispiel unsere erlernten Sprachen und einige weitere Merkmale spielerisch auswählen, die fortan zu einem gewissen Grad Einfluss auf den Verlauf von Diskussionen haben können. Überhaupt sollte man jederzeit überlegen, wie man sich bestimmten Personen gegenüber verhält. Stark gläubige Abteibewohner etwa hören es sicherlich nicht gern, wenn man über ihren Gott herzieht oder frevelhaftes Verhalten betont. In späteren Konfrontationen werden vorher getroffene Aussagen dann positiv oder negativ gewertet, was den weiteren Verlauf der Handlung merklich beeinflussen kann.

Am meisten hat mich Pentiment wohl an das Point-and-Click-Adventure The Pillars of the Earth, welches auf dem gleichnamigen Romanepos von Ken Follett basiert, erinnert. Dieses zählte 2018 zu meinen Spielefavoriten und besticht durch ein ähnliches Setting und ebenfalls sehr schön anzusehende Visualisierungen. Allerdings unterscheiden sich beide Spiele dann doch merklich, vor allem im Hinblick auf die Präsentation der Handlung. Pentiment setzt nahezu vollständig auf Dialoge, Rätsel oder kleinere Minispiele gibt es kaum. Mich persönlich stört dies nicht weiter, es wird allerdings durchaus Spieler geben, die sich mehr „Gameplay“ wünschen würden und bei all dem Lesen wohlmöglich schnell die Lust verlieren. Meines Erachtens nach sorgt die wundervolle Animation der Texte und die geschickte Nutzung verschiedener Schriftarten für genug Abwechslung, um die 15 bis 20 Stunden lange Handlung unterhaltsam zu gestalten. Eine Vertonung hätte an dieser Stelle wohl zur zu starken karikaturistischen Darstellung geführt.

Mit Andreas Maler befindet man sich in den Zwiespälten seiner Zeit und gleichzeitig im Wettlauf gegen die Uhr, wenn es darum geht, durch kluge Dialoge und hohe Aufmerksamkeit die Problematiken zu klären und den Frieden im Städtchen zu bewahren. Das wird insbesondere dann interessant, wenn es zu einem Zeitsprung kommt und die Spielwelt sich dadurch verändert. Kleinkinder sind plötzlich im heiratsfähigen Alter, Großeltern sind nicht mehr und Geschwister sind fortgereist oder an einer Krankheit gestorben. Es macht einfach Spaß, sich in die Gegebenheiten im Ort einzulesen und einzuleben, während man die Aufgaben bewältigt und dabei immer tiefer in die Historie eintaucht. Pentiment ist dabei beileibe kein seichtes Spiel. Stattdessen scheut sich die Geschichte nicht, zeitgenössische Tabuthemen anzusprechen und Streitpunkte unverblümt darzustellen. Am Ende des Spiels ist man jedenfalls nicht nur ein wenig schlauer, was die Bewohner der Stadt angeht, sondern hat ganz nebenbei auch einiges über die lokale deutsch-bayrische Geschichte gelernt.

Pentiment Spindeln

Mein Fazit zu Pentiment:

Das geschriebene Wort bekommt in Pentiment gehörig Gewicht verliehen. Auf den Schultern der Schrift baut sich nicht nur die Handlung auf, sie ist auch zentrales Spielelement und Visualisierungs-Anker über die gesamte Spieldauer. Die Schreibweise dient zur Identifizierung des Standes der Gesprächspartner und wird somit gleichzeitig zum Mysterium in sich. Schriftbild, Schriftstil und nicht zuletzt die Wortwahl fügen sich damit zu einem ganz eigenen Charakterzug der Figuren zusammen.

Die Geschichte von Andreas Maler ist untypisch textlastig inszeniert und verlangt dem Spieler viel Leselust ab. Hat man sich an das Gameplay gewöhnt, kann man kaum noch loslassen und will die spannende Handlung unbedingt weiter verfolgen. Zumindest ging es mir so und ich kann mit Sicherheit sagen, dass Pentiment für mich zu einem der besten Spiele des Jahres zählt.

Negativ fallen lediglich die nach einiger Zeit doch nervigen Überblendungen zwischen einzelnen Gebieten auf, die jedes Mal als Mini-Ladezeit fungieren und damit den Spielfluss zwar nicht lange, aber dafür häufig unterbrechen. Zum Stil des Spiels tragen sie wiederum recht gut bei, weshalb dies mich schlussendlich nicht weiter störte.

Insgesamt ist Pentiment besonders bei der Präsentation seiner Texte einmalig und integriert Schrift als zentrales Element seiner Zeit. Die Macht der Worte war selten so präsent als eigenständiger Aspekt in einem Videospiel spürbar. Pentiment ist eine grandiose Erfahrung für lesewillige Spieler und ist mein Überraschungshit des Jahres 2022!