Als die erste Staffel von Amazons Die Ringe der Macht sich langsam aber sicher dem Ende zuneigte, verspürte ich den Drang, mehr Zeit in Mittelerde verbringen zu wollen. Wenn die Serie eins geschafft hat, dann ist es, mich erneut in die Fantasy-Welt rund um Elben, Zwerge und dunkle Mächte entführt zu haben, die schon vor rund 20 Jahren in Neuseeland so wundervoll in Szene gesetzt wurde. Und genau davon wollte ich mehr! Durch die derzeit herrschende Flaute an Inhalten im Tolkien-Universum ist es allerdings gar nicht so einfach, diese Lust zu stillen. Wie gut, dass es ein 15 Jahre altes MMORPG gibt, das die Atmosphäre Mittelerdes noch immer einzufangen weiß!
Rückwirkend ärgere ich mich immer ein wenig, dass ich bestimmte Spiele nicht von Anfang an kontinuierlich mitverfolgt habe. Oftmals habe ich in der Vergangenheit ein Videospiel ausprobiert, nur um es dann erst einmal zu vergessen und viele Jahre später zu bemerken, dass es doch eigentlich ziemlich unterhaltsam war. Zuletzt erging es mir auch mit Battlefield 1 so, welches ich zwar noch vor der Veröffentlichung in einem Meinungsartikel beim Videospielkombinat kommentierte, es dann aber weder zeitnah erwarb noch ausführlich spielte. Erst vergangenen Winter stürzte ich mich noch einmal auf die Schlachtfelder des Ersten Weltkriegs und wurde deutlich besser unterhalten als im modernen Szenario der sehr unrund wirkenden Preview-Version von Battlefield 2042.
Auch bei Der Herr der Ringe Online schnupperte ich in meinen WoW-Jahren kurz rein, nur um das Ganze dann aus den Augen zu verlieren. Auch spätere Anspielversuche vor grob fünf Jahren konnten mich nicht bei der Stange halten und ich sprang schnell wieder ab. Doch mit Die Ringe der Macht und meiner auch 2022 nicht enden wollenden Suche nach einem spielenswerten MMORPG wagte ich einen dritten Versuch – und diesmal gelang es dem Spiel aus mehreren Gründen, mich zu fesseln!
Ich mag Mittelerde. Ich mag die spürbare Präsenz der Welt als Fundament der Erzählung von Der Herr der Ringe und Der Hobbit, ich mag die epischen Kamerafahrten über die Berge des Nebelgebirges, Gandalfs Ritt in Richtung Minas Tirith, der durch eine tollen Opening-Shot auf die eindrucksvolle Stadt im Kopf bleibt und ich mag die Historie der Landschaften, die jetzt nicht zuletzt durch Die Ringe der Macht für Casual-Fans wie mich eine zusätzliche Epoche und damit tiefere Bedeutung gewinnt. Meine Vorstellung von Mittelerde ist gleichzusetzen mit der Darstellung in Peter Jacksons Filmen – ich kann gar nicht mehr genau sagen, wie oft ich diese inzwischen gesehen habe. Nicht ohne Grund ist die Trilogie von Der Herr der Ringe ein für mich persönlich unerreichtes filmisches Meisterwerk. Verwunderlich ist es aufgrund der starken Wirkung der Welt von Tolkien also nicht, dass auch im MMO-Bereich eine Adaption versucht wurde. Und obwohl es sich schlussendlich nicht um den WoW-Killer handelte, überzeugt das ambitionierte Projekt überraschenderweise noch heute.
Der Herr der Ringe Online entlässt den Spieler nach einem handlungslastigem Intro direkt in die offene Welt. Und was für eine Welt das ist! Trotz der sichtlich betagten Technik werden wunderschöne Bilder auf den Bildschirm gezaubert, die nicht nur Fans des Ringe-Universums beeindrucken. Selbstverständlich wird man umso mehr ins Spiel gezogen, wenn man die vielen aus den Büchern und Filmen bekannten Orte hautnah bereisen kann. Doch auch abseits der vielen markanten Sehenswürdigkeiten weiß die Welt zu überzeugen – und meines Erachtens zuweilen sogar mehr als die von World of Warcraft, wobei das natürlich stark vom subjektiven Geschmack abhängt. Insbesondere die natürlich wirkenden Landschaften in Der Herr der Ringe Online haben es mir wirklich angetan. Düstere Wälder mit dichtem Unterholz, weitläufige Ebenen und eisige Berghänge – all das setzt das Spiel wunderbar in Szene und schafft so eine sehr real und greifbar wirkende Umgebung. Damit weicht das Spiel merklich vom Trend ab, jeden Fleck einer Karte mit Points of Interest zu füllen. Hin und wieder muss man schöne Natur auch einfach mal Natur sein lassen.
Eine weitere visuelle Auffälligkeit sind die beachtlichen Berge und Täler. Zwar sind zerklüftete Landschaften in MMOs oder Videospielen im Allgemeinen keineswegs eine Seltenheit, trotzdem schafft es Der Herr der Ringe Online, dass diese sich wirklich majestätisch anfühlen und durch ihre ungreifbaren Ausmaße zum Staunen anregen. Mir gefallen vor allem jene Momente im Spiel, die mich Mittelerde spüren lassen. Und sehr oft verspüren schon allein die Landschaften das Gefühl, das auch die Panoramaaufnahmen Neuseelands vor gut 20 Jahren erzeugt haben. Spätestens wenn am Horizont dann die Hügel des Auenlandes auftauchen, die Wetterspitze in die Höhe ragt oder man einen schmalen Pfad hinab ins elbische Bruchtal reitet und gleichzeitig noch sehr passende Musikstücke ertönen, fühlt man sich voll und ganz nach Mittelerde transportiert. Es ist schon beachtlich, dass ein derart betagtes Spiel so viele Emotionen zu erzeugen vermag.
Die Schönheit der gezeigten Bilder ist das Eine, die spielerischen Aspekte das Andere. Wenn letzteres nicht passt, macht das Erlebnis früher oder später keinen Spaß mehr und man verliert die Lust. Und an dieser Stelle werden sich sicherlich die Geister scheiden, ob Der Herr der Ringe Online schlichtweg veraltet ist oder sich klassisch anführt. Da mir persönlich das „alte WoW“ immer mehr Freunde bereitet hat als es die moderneren Erweiterungen konnten, bin ich hier definitiv voreingenommen, was meine Einschätzung angeht. Der Herr der Ringe Online ist 2022 sicherlich nicht für jeden etwas, das steht fest. In Sachen Modernität – oder der Abstinenz eben dieser – zeigt sich bei Der Herr der Ringe Online am deutlichsten, dass es sich im Gegensatz zu World of Warcraft kaum weiterentwickelt hat. Ob das gut oder schlecht ist, muss jeder selbst beurteilen. Für den Einen ist das Retro-Gameplay ein Segen, denn schließlich konnte auch WoW Classic mit alten Mechaniken punkten. Für Andere hingegen wird sich das Spielerlebnis zu träge anfühlen. Dass ich an dieser Stelle zu der ersten Kategorie zähle, sollte klar sein.
Abseits der Spielwelt sorgt Der Herr der Ringe Online auch mit seiner Hauptgeschichte für ein immersives Mittelerde-Erlebnis. Diese dient nicht nur als Ankerpunkt und roter Faden, der nach und nach durch die Welt leitet. Vielmehr kommen hier besonders Fans der Trilogie rund um Frodo, Sam und den Einen Ring auf ihre Kosten. Denn als Spieler begleitet man in unzähligen Missionen den Weg der Hobbits und lernt dabei die aus den Büchern und Filmen bekannten Figuren kennen, welche man dann in Missionen unterstützt, die im Hintergrund der Haupthandlung des Herrn der Ringe angesiedelt ist und deshalb die Lore des Ursprungs eher ergänzt als ihr schadet. So hilft man in Bruchtal beispielsweise Legolas und Gimli, unterschiedliche Gefahren abzuwehren und Diener des Bösen, die dem Ringträger an die Gurgel wollen, unschädlich zu machen – was natürlich für eine tolle Atmosphäre für Fans sorgt! Besonders erfreulich ist, dass sich diese Hauptmissionen, die allesamt in instanzierten Bereichen spielen, auch mit einer Gruppe bestreiten lassen. So haben unsere beiden Elben Seite an Seite für das Gute gekämpft, wodurch sich das Spiel hin und wieder sogar nach Koop anfühlt.
Überhaupt ist der Mehrspieler-Aspekt von Der Herr der Ringe Online auch so lange nach der Veröffentlichung und trotz des schwächelnden MMO-Marktes zu loben. Nicht nur, dass man wie eben erwähnt die Hauptgeschichte gemeinsam erleben kann. Ganz Mittelerde ist noch immer gesäumt von Spielern, die man gefühlt an jeder noch so unbedeutenden Stelle der Karte antrifft. Wie es sich für ein MMOPRG eigentlich gehört, fühlt sich die Welt damit sehr belebt an. Ein tolles Gefühl, dass sich stark von meinen Erfahrungen in World of Warcraft vor dem Release von Shadowlands unterscheidet. Dort waren ganze Landstriche förmlich wie ausgestorben. Der Herr der Ringe Online hingegen strotzt alldem und präsentiert uns eine MMO-Welt, die ihrem Namen auch würdig ist. Die aktive Spielerschaft sorgt dann selbstverständlich auch dafür, dass man im Chat jederzeit Hilfe bekommt oder Gruppen für Dungeons im klassischen „Looking for Group“-Kanal zusammensammelt. Zwar gibt es auch einen Gruppen-Finder, dieser ist jedoch bei weitem nicht so ausgebaut wie in WoW. Kommunikation ist hier eben noch wichtig und nötig, wenn man mit anderen Spielern interagieren möchte. Und genau so sollte es meines Erachtens nach auch sein.
Mein Fazit zu Der Herr der Ringe Online:
Wer hätte gedacht, dass Der Herr der Ringe Online im Herbst 2022 zu fesseln weiß! Klar, durch Die Ringe der Macht hatte ich einfach Lust auf Mittelerde. Was ursprünglich aber nur ein kurzer Sightseeing-Trip werden sollte, hat sich zu einer tollen Mehrspieler-Erfahrung entwickelt. Diese erinnert mich stark an die klassischen Zeiten der MMORPGs und die Jahre, in denen alle naselang ein WoW-Killer erschien, der dann letztlich doch keiner war. Der Herr der Ringe Online erging es da nicht anders.
World of Warcraft vom Thron zu stoßen ist seitdem glücklicherweise nicht mehr die Ambition von Der Herr der Ringe Online – und das merkt man dem Spiel an. Der Fokus liegt ganz klar auf einer Bewahrung der Gameplay- und Online-Erfahrung im ursprünglichen Stil, was Freunden der alten Tage sehr zusagen wird aber im Umkehrschluss sicherlich nicht jeden abholen kann.
Das muss es aber auch gar nicht, denn auch jetzt ist Mittelerde sehr lebhaft bevölkert und es ist eine Freunde, sich Abends in Bree einzufinden und den musikalischen Glanzleistungen der Spieler-Bands zu lauschen, die dann auch schon einmal bekannte Hits im Mittelalter-Stil interpretieren, während die Meute um sie herum tanzt und jubelt.
Der Herr der Ringe Online bietet klassisches MMO-Gameplay, überzeugt noch immer mit einer wundervoll gestalteten Welt und ist inzwischen auch zu Free-To-Play-Spielern sehr fair, was Einschränkungen und die Verfügbarkeit von Inhalten betrifft. Mir macht in MMOs immer das Questen und das Entdecken einer schönen Spielwelt am meisten Spaß und Der Herr der Ringe Online bietet genau davon reichlich. Reinschnuppern lohnt sich also, denn die Mächte des Bösen schlafen nicht – sie warten auf den Moment unserer Schwäche! Und ich werde sicherlich noch einige Stunden damit verbringen, dass es soweit nicht kommt!
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