World of Warcraft ist trotz sinkender Spielerzahlen und dem spürbaren Rückgang des allgemeinen Interesse an MMORPGs noch immer der unangefochtene Herrscher über den Genre-Thron. In den letzten anderthalb Dekaden versuchten dutzende Spiele, einen Teil des Erfolges abzuzwacken – alle sind daran gescheitert. Und dennoch geht auch an Blizzards Goldkind die Zeit nicht spurlos vorbei und ich erwartete nicht, dass ich nach Cataclysm noch einmal nach Azeroth zurückkehren würde. Doch dann kam WoW Classic.
Selbst die Jungs und Mädels von Blizzard waren sich nicht bewusst, wie gigantisch groß das Interesse der Spielerschaft an einer neuen alten Version von World of Warcraft zu sein scheint. Anfangs war gar kein separater Server für Deutschland geplant – und selbst Monate nach der Veröffentlichung tummeln sich auf den deutschsprachigen Realms derart viele Spieler, dass man besonders in den Abendstunden und an Wochenenden mit Warteschleifen rechnen muss. Ist Classic denn nun wirklich eine MMO-Offenbarung oder ist der Grund für den Erfolg lediglich die Nostalgie der alten Hasen?
Nach der flotten Charaktererstellung finden wir uns im gemeinsamen Startgebiet der Orks und Trolle im alten Azeroth wieder, welches erst mit World of Warcraft: Cataclysm eine Überarbeitung erfuhr. Die ersten Quests sind vertraut schnell erledigt und prompt befindet man sich auf dem Weg ins Fischerdörfchen Sen’jin an der Küste vor den Echoinseln. Da ich weit vor dem Kataklysmus in WoW eingestiegen bin, kommt mir der Beginn vertraut wie eh und je vor und gemeinsam schwelgt man im Discord über Erinnerungen an Damals. Doch das ist schon jetzt nach wenigen Stunden nicht die einzige Besonderheit von WoW Classic.
Im Laufe der Jahre haben sich im MMO-Genre Mechaniken als Standard etabliert, welche es so in Classic noch nicht gab. Nicht nur, dass Questziele auf der Karte nicht hervorgehoben werden und man sich dadurch erst einmal im Aufgabentext schlau machen muss, was eigentlich zu tun ist – alleine das Finden der Aufträge an sich gestaltet sich schwieriger als gedacht. Denn auch Auftraggeber werden nicht auf der Karte markiert, man muss sich folglich aufmerksam in der Welt nach NPCs mit gelbem Ausrufezeichen über dem Kopf umschauen. Das mag sich erst einmal ziemlich umständlich anhören, entpuppt sich aber zu einem für mich immensen Pluspunkt und spannenden Gameplay-Element.
Das aktive Umschauen im Spiel resultiert nämlich darin, dass ich so selten wie nie zuvor in einem MMO die Minikarte nutzte und stattdessen mein Blickfokus auf der eigentlichen Welt lag. Die offenen Gebiete werden dadurch wieder deutlich in den Mittelpunkt gerückt und fungieren als zentrales Element des Spiels. Ich schenkte meiner Umgebung damit deutlich mehr Aufmerksamkeit und fand schnell diese alte Bindung zu den weitläufigen Landschaft wieder, die ich in aktuellen MMOs und sogar Videospielen allgemein zum Teil sehr vermisse. An dieser Stelle ist „weitläufig“ ein gutes Stichwort, denn wer WoW Classic spielt, der muss sich darauf einstellen, dass er einen Großteil seiner Zeit auf Schusters Rappen unterwegs ist.
Die namensgebende Welt in World of Warcraft wird in Classic wieder deutlich stärker in den Vordergrund gerückt und wird erneut zu einem der Hauptaspekte des Spiels erklärt. Nachdem wir das Trolldorf Sen’Jin verlassen und uns bereits mit ersten Aufträgen im nahegelegenen Orkvorposten herumgeschlagen haben, werden wir zum ersten Mal in die Hauptstadt der Horde geschickt. Die Reise dahin geschieht nicht etwa per Flugposten oder gar Teleport – sondern zu Fuß. Findige Spieler entdecken auf dem Marsch hier und da noch interessante Orte und Quests. Als dann die Tore von Orgrimmar am Horizont erscheinen, Luftschiffe am Himmel kreisen und man zum ersten Mal die unzähligen Spieler in der Stadt erblickt, fühlt man sich wie ein kleiner und (noch) unbedeutender Teil einer großen lebendigen Welt.
Verstärkt wird dieses Gefühl auch insbesondere dadurch, dass es keinerlei Verbindungen zwischen den Servern gibt und Komfortfunktionen à la Dungeonbrowser für die schnelle Gruppensuche komplett fehlen. Zwar sucht man dadurch zuweilen stundenlang nach Mitstreitern für die durchaus knackigen Instanzen, knüpft gleichzeitig aber auch Freundschaften und lernt die Spieler eines Servers kennen. Besonders schön ist es dann, wenn man sich mehrere Tage später vor dem Auktionshaus begegnet und sich im Vorbeigehen zuwinkt. Überhaupt wird Kommunikation in Classic so groß geschrieben wie in kaum einem mir derzeit bekannten MMO. Auch zu Cataclysm-Zeiten stellte man in WoW fest, kaum noch mit seinen Mitspielern interagieren zu müssen. Das erneute Auferstehen einer freundlichen Community im und außerhalb des Spiels ist für mich eine der größten Errungenschaften von WoW Classic.
Insgesamt spielt sich World of Warcraft mit Classic deutlich langsamer als ein Guild Wars 2 oder The Elder Scrolls Online, in welchem man sich in wenigen Sekunden zueinander teleportieren und nach einer kurzen Wartezeit bereits durch ein Dungeon schnetzelt. Gegensätzlich dazu dauert die Gruppensuche und der anschließende Marsch zur jeweiligen Instanz in Classic schon seine Zeit – man ist oft mehr als eine Stunde beschäftigt, bevor das Dungeon überhaupt beginnt. In anderen zeitgenössischen Genre-Kollegen hat man da bereits zum dritten Mal den Endboss besiegt. An dieser Stelle muss jeder für sich entscheiden, welche Art von Spiel man erleben möchte.
Das gemächlichere Vorankommen ist wohl auch der Grund, warum Classic von vielen als das schwerere Spiel bezeichnet wird. Meiner Meinung nach liegt die Schwierigkeit hauptsächlich darin, dass die Geduld der Spieler auf die Probe gestellt wird und man sich wieder mehr Zeit für mittlerweile zu Nebensächlichkeiten verkommenen Mechaniken nehmen muss. Der Weg zum Händler ist für manahungrige Klassen beispielsweise vor einem Dungeon Pflicht, sofern man nach wenigen Schritten in diesem nicht plötzlich ohne Zauber auskommen will. Umso mehr freut man sich dann, wenn man einen Magier in der Gruppe hat, der die heißbegehrten Getränke herbeizaubern kann.
Überhaupt fühlen sich die Klassen dank einzigartiger Fähigkeiten und spürbaren Spezialisierungen sehr verschieden an. Dass die Magier insbesondere durch das Versorgen der Gruppe mit Nahrung und Wasser hoch angesehen sind, ist lediglich die Spitze des Eisbergs – auch so ziemlich alle anderen Klassen haben ihre Alleinstellungsmerkmale und spielen sich dadurch unterschiedlich. Als ich mit meinem Schamanen endlich den Geisterwolf nutzen und mich damit ganze 40% schneller bewegen konnte, musste der Orkkrieger unseres Generalprogrammierers noch ziemlich viele Strecken ohne Geschwindigkeitsboost zurücklegen. Umso größer ist da natürlich die Freude, mit Level 40 endlich das erste Reittier kaufen zu können. Vorausgesetzt man besitzt auch das nötige Kleingeld dafür.
Die Welt vom Vanilla-WoW in Classic unterscheidet sich nicht nur äußerlich stark vom aktuellen Stand nach dutzenden Addons. Bei den gemeinsamen Reisen durch die ersten Gebiete der auch ohne Erweiterungen schon sehr umfangreichen und stimmig gestalteten Inseln Kalimdor und Östliche Königreiche ist uns häufig aufgefallen, dass Gegnergruppen mit viel mehr bedacht angegangen werden müssen als wir anfangs vermuteten. Selbst einzelne Gegner können zum Problem werden, wenn der Schamane kein Mana mehr zum Heilen hat und der Krieger sich noch vom letzten Kampf erholt. Vorsicht ist also auch beim normalen Questen geboten, das – wenn man sich erst einmal an die langen Laufwege zum Verschnaufen gewöhnt hat – herausfordernder und damit auch befriedigender ist als in so manchem AAA-Rollenspiel der letzten Jahre.
Mein Fazit zu WoW Classic:
Ich bin nie sonderlich interessiert an dem Endgame eines MMO gewesen. Vielmehr ist für mich das Entdecken einer großen offenen Welt mit spannenden Herausforderungen der Hauptgrund fürs Spielen – und WoW Classic bietet genau das. Es ist erstaunlich zu sehen, wie ein 15 Jahre altes Spiel es noch immer schafft, dermaßen gekonnt eine Welt zu kreieren, die den Spieler wie kaum eine andere in seinen Bann zieht. Ohne den Spieler übermäßig an die Hand zu nehmen wird eine Atmosphäre geschaffen, die die Reise durch Azeroth zu einem unvergleichlichen Abenteuer macht.
Durch den Wegfall von Funktionen, die zum Großteil nur zum Überspringen von für mich wichtigem Gameplay dienten – genannt seien an dieser Stelle noch einmal der Dungeonfinder und die deutliche Reduzierung der Flugpunkte – erkundet man die Welt zwar langsamer aber gleichzeitig auch deutlich aufmerksamer. Das muss man auch, denn insbesondere das erste Reittier ist mit 90 Gold ein echter Brocken, den ich persönlich nur mit geschicktem Auktionshaushandel und viel Angelei bis Level 40 zusammensparen konnte. Das Gefühl von Erfolg, als ich dann endlich zum Reittiermeister nach Sen‘Jin zurückkehren konnte und zum ersten Mal auf meinen Raptor aufsattelte, ist unbeschreiblich und wohl kaum mit einem anderen Videospiel-Erfolg der letzten Jahre vergleichbar. Im Beitrag zu Overwatch sprach ich vom „alten Blizzard-Gefühl“ – genau hier in WoW Classic habe ich es wiedergefunden.
Der Erfolg von WoW Classic und die vielen unterhaltsamen Stunden, die ich damit hatte, sind ein weiterer Beweis dafür, warum World of Warcraft zu einem derartigen Phänomen aufsteigen konnte und noch immer auf Platz 1 steht. Ich kann Fans vom MMO-Genre einen Blick in Classic uneingeschränkt empfehlen und bin gespannt auf die weitere Entwicklung des Spiels.